Das Blockchain-Massaker in Cripplegate

Essay
02.04.2018

Das Blockchain-Massaker in Cripplegate

Der Protagonist dieser Kurzgeschichte vertraut niemandem. Er schwimmt in Geld, das er durch Investitionen in Kryptowährung gewonnen hat, ist finanzbesessen und an Menschheit und Menschlichkeit desinteressiert. Die Geschichte ist nur wenige Jahre in der Zukunft angesiedelt, nachdem die Kryptofinanzwelt schon einige Entwicklungsphasen durchlaufen hat. Die Hauptfigur hat mit ihren Kryptoprofiten eine Penthouse-Wohnung in einem Londoner Immobilienmonster namens The Denizen gekauft. Das London in Homes Erzählung ist im Schatten solcher Immobilienprojekte versunken. Sein Protagonist ist das Paradebeispiel für die Entmenschlichung der zügellosen Gewinnsucht, die allein aus Kapital immer neues Kapital schöpft. Als er einen Unfall hat und seine Finanzen zusammenbrechen, nimmt dieser namenlose Investor Rache.

 

Das Blockchain-Massaker in Cripplegate

Datumszeile: 21. Juni 2020

Als ich vor zwei Monaten in London ankam, war ich eine äußerst vermögende Privatperson. Ich besaß nahezu eine Milliarde Dollar an liquiden Vermögenswerten, nachdem ich das von meinem Großvater geerbte Geld durch kluge Investitionen in Kryptowährungen vermehrt hatte. Es gibt kein Geheimrezept, das dich zum Unternehmer macht – du musst einfach billig kaufen und teuer verkaufen. Das war es, was ich tat: Ich hatte in Bitcoin, Litecoin, Ethereum, Zcash, Dash und Monero angelegt, während ich die von zentralisierten Banken bevorzugten Player wie Ripple vermied. Es war natürlich keine Überraschung, als Regierungskommissionen wie die Börsenaufsichtsbehörde die ursprünglichen Coin-Angebote zu Wertpapieren erklärten. Auch wusste ich, dass staatlich geförderte Angriffe auf die Anonymität, die Kryptowährungen so attraktiv machte, eine große Kerbe in deren Wert schlagen würden. Deshalb plante ich, meine virtuellen Währungsbeteiligungen während der paar Tage zu verkaufen, die ich in London zu verbringen gedachte.

Ich wollte mich gänzlich den eher traditionellen Investitionsformen zuwenden – wie spekulativen Geschäften mit Immobilien, die als „Tresore im Himmel“ Profit abwerfen. Ich besaß solche Geisterimmobilien in der ganzen Welt und wollte nun dieses leerstehende Wohneigentum aufwerten. Ich hatte es 56 zudem mit hohen Hypotheken belastet, um auch noch ein bisschen Profit aus dem Währungstausch zu schlagen. Um meine Spuren zu verwischen, hatte ich meine enormen Gewinne und ursprünglichen Deviseninvestitionen in Kryptowährungen umgewandelt, die ich nun in US-Dollar zurücktauschen und nutzen wollte, um meine Hypothekenlast abzuzahlen und in weitere Immobilien zu investieren.

Ich war aus einer Laune heraus nach London gekommen. Ich hätte meine Transaktionen überall in der Welt ausführen können. Aber ich besaß eine Geisterimmobilie in der City of London – und so dachte ich, ein paar Tage zum Abschluss meiner Geschäfte in diesem Penthouse im The Denizen könnten nicht schaden. Des Nachts wollte ich mich mit blassen englischen Prostituierten vergnügen. London war auch sonst attraktiv, bot gute Möglichkeiten zum Shoppen und Essen – ganz zu schweigen vom Service mit dem unehrlichsten Lächeln der Welt. Ich liebe es, unter der Dienstbarkeit die Bitterkeit der Menschen zu sehen, die meinem Geld verpflichtet sind.

Ich habe keine Sekretäre oder Assistentinnen. Ich traue ihnen nicht. Wenn ich ein Lohnsklave mit Zugang zu den finanziellen Daten eines reichen Mannes wäre, würde ich meinen Chef auf jeden Fall abzocken. Ich war froh um Reinigungskräfte, Diener, Hausmädchen, Huren, Masseure und Kosmetikerinnen, die ich einstellte, um meinen Darm zu spülen. Aber ich würde niemals einer anderen Person meine Finanzinformationen anvertrauen. Zumal es wirklich wenig Mühe kostet, aus dem Geld, das du schon hast, noch mehr zu machen. Das klappt sogar im Schlaf; es gibt also keine Notwendigkeit, das bisschen erforderliche Arbeit zu vermeiden. Mit meinen unzähligen liquiden Vermögensbeteiligungen konnte ich geradezu Geld scheißen – und blieb eigenständig.

Und doch gab es stressige Momente. Als ich am Flughafen Heathrow ankam, hielt ich Ausschau nach dem Mann, der mich ins Stadtzentrum bringen sollte, sodass ich schnell mit dem Anlagentransfer aus der Blockchain in solides Mauerwerk vorankommen konnte. In der Einreiseschlange ging es nur langsam voran; ich ärgerte mich über diese Massen an ungewaschener Menschlichkeit. Endlich an den Kontrollen vorbei, eilte ich zur Gepäckausgabe.

Von da an erinnere ich mich an gar nichts mehr, aber im Krankenhaus sagten sie mir, dass ich ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen sei. Als ich aufwachte, fühlte ich mich benommen und dachte nicht wirklich über die Tatsache nach, dass meine laute Umgebung nicht dem Komfort entsprach, den meine private Krankenversicherung übernommen hätte.

Von da an erinnere ich mich an gar nichts mehr, aber im Krankenhaus sagten sie mir, dass ich ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen sei. Als ich aufwachte, fühlte ich mich benommen und dachte nicht wirklich über die Tatsache nach, dass meine laute Umgebung nicht dem Komfort entsprach, den meine private Krankenversicherung übernommen hätte.

„Ich brauche sechzig Pfund, um das Taxi zu bezahlen, das mich hergebracht hat“, sagte ich. „Können Sie mir das auslegen und wir klären das später?“

„Sie brauchen sehr viel mehr als sechzig Schlüpfer, mein Freund“, antwortete er. „Sie sind in Verzug mit Ihren Nebenkosten und die Bank ist dabei, Ihre Wohnung wieder in Besitz zu nehmen, weil Sie die Hypothek nicht bedient haben.“

„Geben Sie mir nun das Geld?“

„Nein.“

„Dann geben Sie mir die Schlüssel zu meiner Wohnung!“

„Das kann ich nicht tun. Das Objekt ist jetzt nur noch formal in Ihrem Besitz und wird in Kürze jemand anderem gehören.“

„Hören Sie, ich habe das Geld und eine Menge Wertsachen in der Wohnung. Wenn Sie mich reinlassen, sorge ich dafür, dass es Ihre Mühe wert ist.“

„Ist ein Tausender für mich drin, Sir?“

„Selbstverständlich“, erwiderte ich schnell.

Der Concierge war offenbar ein gieriger Dummkopf. Ich trug kein Bargeld bei mir und bewahrte sicherlich keines in dem Dutzend unbewohnter Wohnungen auf, das ich weltweit besaß. Meine Wohnungen waren mein Geld. Überhitzte Immobilienmärkte bedeuteten, dass ich sie einfach leer stehen lassen konnte, sie derweil im Wert stiegen und Gewinn für mich abwarfen. Da ich meine Bude im Denizen ab und zu nutzte, bewahrte ich dort jedoch eine Sammlung illegaler Schusswaffen auf. Es war wichtig, mich verteidigen zu können. Ich sagte dem Concierge, er solle im Wohnzimmer warten, während ich in eines der Schlafzimmer ging. Er dachte, ich würde das Geld holen, doch stattdessen ging ich zu den Waffen.

Wie Elvis Presley hatte auch ich in meine Walther PPK das legendäre „TCB“ eingravieren lassen, kurz für „Taking Care of Business“. Ich lud die Pistole und entleerte die Halbautomatische in den Concierge. Dann ging ich zur Eingangstür meiner Wohnung und verbarrikadierte mich. Ich hatte WLAN, aber in meinem Penthouse gab es kein Gerät, um mich damit zu verbinden. Ich brauchte auch keins. Ein Live-Bildschirm auf der anderen Straßenseite sagte mir alles, was ich zu wissen brauchte.

Ich hatte an Online-Diskussionen der Denizen Resident Association darüber teilgenommen, was wir angesichts der Tatsache unternehmen könnten, dass unser Haus dem Fortune Street Park das Licht nahm. Der Schatten des Gebäudes hatte die Teile des Parks, die uns am nächsten lagen, in ein Schlammbad verwandelt. Wir hatten unsere unfertigen Wohnungen vom Plan weg und in der Annahme gekauft, dass wir eine Aussicht auf Bäume und Grün haben würden. Diese gingen dann aber sukzessive an Lichtmangel und Baustellenstaub durch unseren Neubau ein. The Denizen war viel höher als die Polizeistation, die dort vorher gestanden hatte, und so gab es im Park von September bis März keine Nachmittagssonne mehr. Wir entschieden, das junge Design-Team Saussure und Jacobsen zu beauftragen, ein Kunstwerk zu schaffen, das jeden armen Dreckskerl auf seinen Platz verweisen würde, der sich dem Denizen näherte – und das uns zugleich den Anblick des Schlammbads ersparen würde. Das Werk nutzte Gesichtserkennungstechnologie, um jene Menschen zu identifizieren, die keinen bedeutenden finanziellen Beitrag zur Gesellschaft leisteten. Computer durchsuchten dann das Internet nach Informationen über diese Leute. Algorithmen stellten ein Paket peinlicher Informationen über all jene zusammen, denen es nicht gelungen war, den Wohlstandsidealen gerecht zu werden, die wir Bewohner des Denizen erreicht hatten. Diese wurden auf einem zweiseitigen elektronischen Bildschirm gezeigt, den wir am westlichen Rand des Parks hatten aufstellen lassen.

Ich konnte nun einige furchtbare Schnappschüsse von mir selbst auf diesem westlichen Bildschirm sehen. Sie wurden ausgewählt, weil sie in den sozialen Medien mit Beschriftungen wie „der Katzenjammer danach“ auftauchten. Ich kuratierte die von mir online verfügbaren Fotos sehr aufmerksam. Alle Bilder, die ich auf unserem Livekunst-Bildschirm sehen konnte, kamen von den Profilseiten von Bekannten, nicht von meinen eigenen. Die Tafel enthüllte, dass meine Investitionen in Kryptowährungen abgestürzt waren, ich nun schwer verschuldet war und mir ein Konkursurteil bevorstand. Der Bildschirm machte sich auch über meine Investition ins Denizen lustig: Mit den Turbulenzen infolge des Brexit war der Wert meines mit hohen Hypotheken belasteten Luxusapartments gefallen. Immerhin war der Name, mit dem ich bezeichnet wurde, nur ein Alias.

Meine leerstehende Investition lag nicht einmal im historischen Herzen der City of London, wie die Verkäufer versprochen hatten. In Wirklichkeit befand sie sich im äußeren Bezirk von Cripplegate, außerhalb der ursprünglichen Stadtmauer. Das lag gerade noch innerhalb der von den Behörden so benannten Culture Mile; diese endete jedoch mitten auf der Straße, da die andere Straßenseite der Golden Lane schon zu Islington gehörte. Ich war betrogen worden und ich wusste, es gab nur einen Weg, die Milliarden von Dollar zurückzufordern, die ich verloren hatte: Menschen das Leben zu nehmen. Ich war inspiriert von Stephen Paddock, dem Schützen von Las Vegas, der 2017 weltweit Schlagzeilen machte. Es war kein Zufall, dass wir beide Abschlüsse in Betriebswirtschaftslehre hatten. Paddock war vielleicht der größte Massenmörder des 21. Jahrhunderts, doch ich würde an ihm vorbeiziehen, indem ich noch mehr Opfer forderte – und zwar Büromenschen, die im Fortune Street Park Mittagspause machten.

2014 versah das Schatzamt des Vereinigten Königreichs den durchschnittlichen Mord mit einem Preisschild. Die gesellschaftlichen Kosten beliefen sich insgesamt auf mehr als eine Million Pfund. Wirtschaftlich verpulverte Mord 530.000 Pfund aus unserer materiellen Welt, einschließlich des verlorenen Arbeitsertrags. Die direkten Kosten für den staatlichen Gesundheitsdienst, die Polizei- und Justizbehörden beliefen sich auf 174.000 Pfund. Das bedeutete, der durchschnittliche Mord schloss mit Verlusten in Höhe von 1.778.000 Pfund ab. In Anbetracht der Inflation sowie der Tatsache, dass die Kosten in London höher sind als anderswo im Land, würde nach einer niedrig angesetzten Schätzung jede von mir im Fortune Street Park erschossene Person die britische Wirtschaft um mehrere Millionen Pfund erleichtern. Allerdings hat eine Massenerschießung wie Paddocks mit ihren 58 Opfern noch höhere Kosten als ein einfacher Mord, sodass meine Mordzahl gar nicht dreistellig werden musste, um die Milliarden zu amortisieren, die ich verloren hatte. Indem ich Stephen Paddocks Ergebnis erreichte, beglich ich die Bilanzen, wobei ich, glaube ich, ein paar mehr Leute aus dem Spiel nahm als er.

Paddock war einer meiner Helden – und so hatte ich meine Wohnung mit denselben Waffen und derselben Munition gefüllt, die er für sein Massaker in Las Vegas angesammelt hatte. Darunter waren vier DDM4 Sturmgewehre, drei FN-15 Gewehre, ein AR- 15 Sturmgewehr mit Vordergriff, ein .308-Kaliber AR-10 Gefechtsgewehr und eine AK-47. Hinzu kam eine große Menge an Munition in speziellen Magazinen mit je bis zu 75 Ladungen. Ich hatte Zweibeine, um die Gewehre abzustützen, sowie High-Tech-Zielfernrohre. Und natürlich waren meine Waffen mit Schnellfeuerkolben aufgerüstet.

An einem sonnigen Sommertag ist der Fortune Street Park zur Mittagszeit brechend voll von Büromenschen, die Essen von den Imbissen in der benachbarten Whitecross Street verzehren. Die Menschen haben kaum noch Platz, um sich zu bewegen. Bevor ich begann, von meinem Fenster mit Blick auf den Park aus zu schießen, machte ich ein paar handschriftliche Berechnungen, wo ich am besten hinzielte, um den Blutzoll zu erhöhen. Die Deppen dort unten im Park zu töten, war wie Fische fangen in einem Fass. Ich schoss sie ab wie Gänse auf dem Fließband zu Weihnachten. Menschen sind so dumm. Viele legten sich flach auf den Boden, um dem bleiernen Tod zu entkommen, den mein Schussfeuer brachte. Andere versuchten wegzulaufen und ich lachte darüber, wie das Weinrot die weißen Hemden all jener befleckte, die ich erwischt hatte. Sie bewegten sich komisch, zuckten wie spastisch, bevor sie starben.

Ich kann jetzt die Polizeihelikopter über mir hören und es müssen auch schon Polizisten im Denizen sein. Auf meinen Namen kommt es nicht an. Ich habe fünf verschiedene Pässe und diverse andere gefälschte Ausweise. Ich hoffe, die Behörden werden mich nie identifizieren. Ich bin ein besonders bevorzugter Bewohner – ein Denizen – unserer finanzialisierten Welt! Ich werde mich in die Luft jagen. Dabei will ich ein großes Stück vom oberen Gebäudeteil und ein paar Polizisten mitnehmen. Es gibt kein inneres Leben. Ich möchte glücklich sterben, in dem Wissen, dass ich meine Dollar- Verluste in Pfunden aus Leibern amortisiert habe. Schulden sollten eingetrieben werden – und sobald ich die oberen Stockwerke vom Denizen zerstört habe, wird mir gänzlich zurückgezahlt, was mir geschuldet ist.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.

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